Warum wir für Erklärungs- und Trainingsansätze nicht die Dominanztheorie heranziehen!
Ja, es gibt sie, diese ominöse Dominanz. Doch sie hat für unser Zusammenleben mit unseren Hunden und für unser Training keine Relevanz. Es ergibt keinen Sinn, das Verhältnis von Hunden untereinander im Familienverband oder das Verhältnis von uns Menschen zu unseren Hunden und umgekehrt mithilfe der Dominanztheorie zu erklären.
Warum nicht?
Aus verschiedenen Gründen:
- Weder Hundehalter, noch die meisten Trainer benutzen den Begriff der Dominanz so, wie er in der Verhaltensbiologie beschrieben und definiert wurde. Wir Menschen, die in Hierarchien leben, haben ein Alltagsverständnis dieses Begriffes, und wir füllen diesen Begriff mit den Inhalten, die wir uns aufgrund unserer Erfahrungen, z.B. im Berufsalltag damit verbinden. Das ist jedoch nicht das, was Dominanz tatsächlich meint.
- Dominanz beschreibt Beziehungen. Die sind wechselseitig gestaltet. Was die meisten Hundehalter daraus aber machen, ist, einem Hund eine festgeschriebene Eigenschaft oder einen Charakter zuzuschreiben. Es wird gesagt, ein Hund sei dominant. Doch ein Hund kann in diesem Sinne nicht dominant sein.
- Aus diesem Missverständnis heraus, dass ein Hund dominant sei, wird abgeleitet, man müsse ihn zurückstutzen und so verhindern, dass er seinem Menschen über den Kopf wächst. Das bedeutet, dass allerlei Regeln aufgestellt werden, die dem Hund klarmachen sollen, dass er nicht der Herr im Hause ist. Damit einher geht immer, dass ein Hund einen Großteil seines Wohlbefindens einbüßt und bestenfalls verwirrt wird durch plötzlich neue und rigorose Regeln. In den meisten Fällen resultieren daraus Angst oder Frustration/Aggression.
Stellt euch einmal vor, ihr kommt morgen zur Arbeit, und auf einmal gingen eure Kollegen mit euch so um, wie es Haltern von angeblich dominanten Hunden empfohlen wird. Wie würde es euch ergehen? - Eine Vielzahl von Verhaltensweisen wird als Indiz für Dominanz herangezogen: Der Hund setzt sich auf den Fuß des Halters. Der Hund liegt auf dem Sofa. Der Hund geht zuerst durch die Tür. – Eben all das, was mit den sog. Rangreduktionsmaßnahmen wieder ins Lot gebracht werden soll.
Es bricht mir das Herz, wenn Menschen sich von diesen Verhaltensweisen in ihrer Autorität angekratzt fühlen und nicht erkennen, dass Hunde einfach körperliche Nähe suchen, genau wie wir gern bequem liegen (und dabei den Geruch ihrer Menschen in der Nase haben – eine Wolke des Wohlbefindens) und es schlicht ganz eilig haben, rauszukommen oder einfach ganz freudig aufgeregt sind. - Hunde haben den Menschen als ihren wichtigsten Sozialpartner auserkoren. Sie leben mit uns familiär zusammen. Ja, sie erleben sich als Teil einer Familie. Und die meisten Hundehalter würden auch sagen, dass ihre Hunde Familienmitglieder sind.
Wie gehen wir in Familien miteinander um?
Natürlich können wir einen Vater immer noch als dominantes Familienoberhaupt begreifen, dem sich alle anderen unterzuordnen haben. Und im Notfall wird er sich womöglich auch so aufführen und bestimmen. Aber unsere Lebenswirklichkeit sieht doch eher so aus, dass gemeinschaftlich Entscheidungen getroffen werden. Dass es jedem in der Familie gut gehen soll und wir jedem Familienmitglied mit viel Wohlwollen – und vor allem Liebe – begegnen.
Heutzutage käme niemand mehr auf die Idee, Kinder als minderwertige Erwachsene zu sehen, die nichts zu melden haben und bei Trockenbrot und Wasser „gehalten“ werden, die sich still zu verhalten und um Himmelswillen nur nicht ausgelassen sein sollten. Niemand würde heute Kindern absprechen, dass auch die Befriedigung ihrer Bedürfnisse eine wichtige Rolle spielt. Kaum noch wird von Kindern einseitig gefordert zu „gehorchen“.
Hunde sind unsere Schutzbefohlenen. Und die Art, wie wir mit ihnen leben, erinnert stark an Brutpflege – also an die Aufzucht von Welpen. Unsere Hunde verstehen es so. Sie verstehen uns als Eltern. Wer möchte seine Eltern als seine Chefs sehen? Als alleinige Bestimmer, deren Bedürfnisse die einzig wichtigen sind? Und sich selbst als jemand, der nichts zu melden und nichts zu wollen hat?
(Ich frage mich gerade, ob jemand ernsthaft seinen Kindern verbietet, auf seinem Schoß zu sitzen, weil sie damit die Bewegungsfreiheit willentlich einschränkt wird.) - Wenn wir unsere Hunde als Familienmitglieder begreifen, dann kommen wir auch schnell dazu, mehrere Hunde im Haushalt als (nicht blutsverwandte) Geschwister zu begreifen. Menschliche Kinder sind meist unterschiedlich alt, und schon daraus leitet sich häufig eine gewisse Überlegenheit des einen Kindes über das andere ab.
Und was machen wir als Eltern? – Wir sorgen für Ausgeglichenheit und größtmögliche Gerechtigkeit. Wir mischen uns bei Streitereien ein und lassen es die Kinder nicht in aller Konsequenz untereinander klären bis eines blutet. Wir berücksichtigen nicht nur die Wünsche und Bedürfnisse des einen Kindes und „akzeptieren“, dass das Zweitgeborene eben nichts zu melden hat gegenüber dem Erstgeborenen.
Denkt das einmal konsequent bis zu Ende. Vielleicht habt ihr selber Erfahrungen gemacht mit sog. Geschwisterrivalität oder dem Empfinden, eure Geschwister seien konsequent bevorzugt worden. Was macht das mit euch bzw. was hat das mit euch gemacht? Welche Folgen für euer Wohlbefinden hatte das? Und wie war das Zusammenleben?
Bei Mehrhundehaushalten, die so gestaltet werden, ist bekannt, dass entweder ein Hund sich depressiv zurückzieht oder dass es irgendwann richtig knallt. So schlimm, dass ein Zusammenleben der Hunde oft nicht mehr möglich ist, weil sie sich töten wollen.
Euch ist das alles zu vermenschlicht?
Nun, das Sozialverhalten, die Emotionen und das Wohlbefinden unserer Hunde sind recht gut erforscht. Die Ergebnisse lassen keinen Zweifel darüber zu, dass Hunde einen Sinn für Gerechtigkeit haben, sich uns als Familienmitglieder anschließen und gerade nicht nach der Weltherrschaft streben – oder danach, alle anderen in ihrer Familie zu unterjochen.
Hunde wachsen uns nicht über den Kopf, wenn wir ihnen auf Augenhöhe begegnen. Sie tun es, wenn wir sie kleinzuhalten versuchen.