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Grundlagen

Kind und Hund – Was Du wissen musst

Aktuellen Schätzungen zufolge hat die Corona-Pandemie zu einem Zuwachs von Hunden von etwa 20% in Deutschland geführt. Auch in meinem Umfeld haben viele Hunde, vornehmlich aus dem Auslandstierschutz, ein Zuhause bezogen. Für die meisten Hunde ist es das erste Zuhause überhaupt. Und für die meisten Hundehalter gilt, dass der frisch eingezogene Hund ebenfalls der erste ist. Beide, Hund und Halter, sind also Neulinge auf ihrem Gebiet.

Bei Hunden aus dem Auslandstierschutz kommt hinzu, dass viele über keinerlei Erfahrung mit Menschen verfügen. Selten geht der menschliche Kontakt über die Fütterung hinaus – und die ist aufgrund von Ressourcenverteidigung unter den Hunden meist ein stressendes Ereignis. Über das Zusammenleben mit der Spezies Mensch wissen diese Hunde nichts.

Es gibt eine Reihe von Problemen, die bei der Adoption von Hunden aus dem Auslandstierschutz, vor allem bei einer Direktvermittlung vom Shelter ins heimische Haus, auftreten können. Vom Einfangen der Hunde, über deren Unterbringung bis hin zum Transport erleben viele Hunde nicht nur Stress, sondern sie werden oft auch traumatisiert. Welpen, die in Sheltern geboren werden, sind oft depriviert und begegnen der Welt daher mit ängstlicher Skepsis. Zuweilen schlägt Angst in Aggressionsverhalten um. Außerdem gelten Hunde, deren Mutterhündinnen während der Trächtigkeit gestresst waren, als wenig resilient. 


Was hat all das nun mit Kindern zu tun?

Auf den ersten Blick nicht viel. Wann immer ein Hund in ein (neues) Zuhause einzieht, gilt es im Sinne der Bissprävention einiges zu beachten. Es ist erst einmal unerheblich, ob dieser Hund vom Züchter oder aus dem Tierschutz kommt. Schon vor der Corona-Pandemie gingen die allermeisten Beißvorfälle vom eigenen Hund aus. Und ganz überwiegend waren Kinder die Opfer solcher Vorfälle.

Aurea Verebes hat in ihrem Buch „Warum beißt ein Hund die Menschen, die er liebt“ dargestellt, dass eine Hauptursache für Beißvorfälle darin besteht, dass die Menschen die Körpersprache der Hunde nicht ausreichend gut kennen. Auch aktuell sind wieder viele Bilder und Videos von Hund und Kind in den sozialen Medien im Umlauf, die hundertfach geliked werden, während erfahrenere Hundehalter und Fachleute die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Aus gutem Grund! Was wir zu sehen bekommen, ist selten niedlich, sondern vielmehr brandgefährlich.

Tatsächlich gehen solche Situationen auch gut aus. Wäre ein Beißvorfall daraus geworden, hätten wir die Videos nicht zu Gesicht bekommen. Fatalerweise lernen aus dem Umstand, dass nichts passiert ist, sowohl die Neuhundehalter selber, als auch ein Großteil derer, die solche Videos anschauen, das Falsche: dass es nicht gefährlich gewesen sei; dass alles ganz harmlos und harmonisch und eben doch zuckersüß wäre. Sie ahnen nicht, wie knapp sie mitunter einer Katastrophe entkommen sind.

Schon vor Corona haben sich zahlreiche Trainerinnen dem Schwerpunkt „Kind und Hund“ gewidmet, um Eltern aufzuklären und zu beraten, um das Gefahrenpotenzial zu reduzieren. Der Bedarf war da, und er ist durch die Zunahme an Hunden in Deutschland noch größer geworden. Ein Bedarf, den leider allzu oft nur die Profis sehen.


Besonderheiten beim Zusammenleben von Kind und Hund

Kinder sind, wie schon erwähnt, in besonderem Maße von Beißvorfällen betroffen. Das kann ganz unterschiedliche Gründe haben. Das Thema kann man nur schwer erschöpfend in einem Artikel behandeln. Daher möchte ich die wichtigsten Punkte zusammenfassen:

  1. Das Bindungsverhalten von Kindern sorgt dafür, dass sie ihrem Gegenüber intensiv und anhaltend in die Augen schauen. Hunde können lernen, dass das nicht bedrohlich ist, aber ihre Natur sagt ihnen zunächst einmal etwas anderes. Je nach weiterem Verlauf und Veranlagung des Hundes begegnet er dieser vermeintlichen Bedrohung mit Aggressionsverhalten.

  2. Hunde gehen nicht automatisch aus einer Situation, wenn sie sich bedrängt (und somit bedroht) fühlen. Sie können das lernen, aber dazu müssen sie angeleitet werden. Geraten Kind und Hund in zu große Enge, kann aus dem süßen Fiffi „wie aus dem Nichts“ ein beißendes Ungeheuer werden. Die betroffenen Eltern schildern den Vorfall als unvorhersehbar. In der Kenntnis um das Wesen des Hundes ist das jedoch eine offensichtliche Gefahrenquelle, die sich umgehen ließe.

  3. Manchmal können Hunde auch nur schwer weg, selbst wenn sie auf die Idee kommen. Kinder neigen dazu, Hunde zu umarmen. Ich weiß nicht, ob sich außer mir noch jemand an Elmyra von den „Tiny Toons“ erinnert. Sie verkörpert, zugegebenermaßen etwas überzeichnet, ein Kind, das Tiere intensiv „zwangsbekuschelt“. Kein Tier mag das, Hunde auch nicht. Sie würden die Situation meiden, und körpersprachlich drücken sie das auch aus. Nur gehört werden sie nicht immer. Und dann kann es passieren, dass sie sich „freibeißen“. Dabei muss eine Umarmung lange nicht so intensiv sein wie bei Elmyra, um Abwehrverhalten hervorzurufen.

  4. Nicht nur, dass Kinder noch weniger in der Lage sind, die Körpersprache von Hunden richtig einzuschätzen als unerfahrene Erwachsene; sie können ebenso wenig ausweichen wie die Hunde selber: Gerade kleine Kinder, die noch gar nicht mobil oder noch sehr unsicher auf den eigenen Beinen sind, haben Schwierigkeiten damit, ihnen unangenehmen Situationen mit dem Hund zu entgehen, indem sie den Abstand vergrößern. Auch Kinder können sich dann zur Wehr setzen. Und wer weiß, wie kräftig schon Babys zupacken können (ein Reflex übrigens), ahnt, dass das auch beim Hund Schmerzen auslösen kann. Und (plötzliche) Schmerzreize sind einer der Hauptgründe für Beißvorfälle.

  5. Ressourcenverteidigung. Hund und Kind bewegen sich beide vielfach nah am Boden. Sie teilen sich sozusagen einen Lebensraum, und in ihm können sie um Ressourcen konkurrieren. Kinder füttern gerne Hunde. Also halten sich die Hunde auch gern bei den Kindern auf. Es lohnt sich einfach. Wenn ihnen aber mal ein Keks herunterfällt und beide greifen zeitgleich danach (der Hund eben mit dem Fang), oder wenn der Hund den Keks aus der Hand des Kindes erobern möchte, oder wenn das Kind es sich im letzten Moment mit dem Füttern doch noch anders überlegt und die Hand wegzieht (ein oft zu beobachtendes Spiel, bei dem Kinder ihr eigenes Gefüttert-Werden imitieren), kann das böse ins Auge gehen.

    Ressourcen können auch andere Dinge sein. Und wichtig zu wissen ist zudem, dass es durchaus denkbar ist, dass die Einstufung als Ressource wechseln kann. Was gestern noch egal war, kann morgen oder in einem anderen Kontext extrem wichtig für den Hund sein.

  6. Die Entwicklung von Kindern geht rasant voran. Kleine Kinder verändern sich regelmäßig nicht nur im Hinblick auf die Körpergröße oder ihren Geruch, sondern auch die motorische Entwicklung bringt für die Hunde immer neue Lernanforderungen hervor.

    Gestern krabbelte das Kind noch, heute torkelt es mit weit ausgestreckten Armen und unsicher direkt auf den Hund zu. Gestern rollte das Kind noch auf dem Bobbycar durch die Gegend, heute steht es auf Inlinern und hat wesentlich ausladende Armbewegungen und ein enormes Tempo drauf. Aus Hundesicht kann dies eine ernsthafte Bedrohung darstellen. Und es kann sein, dass der Hund dann nach vorne geht und sich gegen diese Bedrohung verteidigt.


Die Sache mit dem Stress

Ob ein Hund sich o.g. Herausforderungen (dem Anschein nach) gelassen stellen kann oder nicht, hängt im Wesentlichen auch davon ab, wie gestresst er grundsätzlich ist. Wir alle wissen, dass wir leichter aus der Haut fahren, wenn wir gestresst sind. Das Nervensystem reagiert empfindlicher, und wir bewerten Situationen auch als belastender als wenn wir gerade mit einem Drink am Pool sitzen und uns die Sonne auf den Bauch scheinen lassen.

All die genannten Situationen können für einen Hund stressend sein, jede für sich. Ich kenne genug Hunde, auch vom Züchter und gut sozialisiert, die in einer der dargestellten Situationen die Zähne zeigen würden.

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Hund aus der Haut fährt, erhöht sich deutlich, wenn weitere Stressoren hinzukommen, die unfassbar vielseitig sein können. Daher zähle ich hier nur einige auf:

* anhaltender Lärm
* Schmerzen und Erkrankungen
* Schlafmangel
* soziale Isolation
* Über- und Unterforderung
* unklare Kommunikation/ Erwartungsunsicherheit
* Angst vor Strafen
* Veränderung von Lebensumständen / Umzug
* Trennungsstress
* Angst
* Reizüberflutung
* Konflikte
* Einschränkung von Bewegungsfreiheit
* lange Reisen
* nicht gestillte Grundbedürfnisse
* …

* Die Kombination von Stressoren!


Der gestresste Hund aus dem (Auslands-)Tierschutz

Wir brauchen nun nur noch die Fakten zusammentragen, die dazu führen, dass Hunde aus dem (Auslands-)Tierschutz ein größeres Risiko tragen, in besonderem Maße gestresst zu sein:

Die Hundemutter ist während der Aufzucht der Welpen aufgrund ihrer eigenen Lebensumstände häufig gestresst. Hormonelle und epigenetische Faktoren führen dazu, dass die Welpen weniger stressresistent sind.

Die Welpen, die im Shelter (oder bei Vermehrern) geboren werden oder dorthin gebracht werden, wachsen unter ungünstigen Lebensbedingungen auf. Auch wenn sich die Pfleger viel Mühe geben und sich Zeit nehmen, kommen die Welpen mit vergleichsweise wenig Umweltreizen in wohldosierte Berührung, mit denen sie eine gute erste Lernerfahrungen machen können. Solche deprivierten Hunde leiden vergleichsweise oft unter Ängsten.

Die allermeisten Hunde (gleich welchen Alters) dürften aufgrund der Unterbringung vieler Hunde auf engem Raum ungute Erfahrungen mit Artgenossen und Nahrungsknappheit gemacht haben. Unverträglichkeiten und Ressourcenverteidigung sind praktisch vorprogrammiert.

Man darf nicht verschweigen, dass manche Hunde bereits schlechte Erfahrungen mit der Nähe von Menschen gemacht haben. In den Sheltern herrscht dauerhaft Lärm durch Hundegebell. Die Möglichkeit, an körperlicher Erschöpfung, Schlafmangel, Erkrankungen oder Verletzungen zu leiden, besteht zu allem Überfluss auch.

Ob junger oder schon älterer Hund: Sie haben eine lange und kräftezehrende Reise hinter sich. Und die Trennung von ihren Sozialpartnern. Von allem, was ihnen vertraut war. Sie landen alle in einer vollkommen fremden Umgebung, von der sie nicht wissen, was sie für sie bereithält. Wie Aliens auf einem fremden Planeten.

Viel zu oft dürfen sich diese Hunde nicht erst einmal ausruhen und zwei Wochen lang durchschlafen, um ihr übersteuertes Nervensystem zu regulieren, sondern sie werden vielfach direkt mit neuen Dingen konfrontiert und weiteren Stressoren ausgesetzt. Tante Erna kommt mal gucken; Fiffi wird in den nächsten Fachmarkt geschleppt, um sich ein Körbchen auszusuchen; der Hund wird angesichts des unschönen Geruchs direkt gebadet, und ebenfalls am ersten Tag wird der Hund in den nächstgelegenen Park gezerrt. Und ständig sind da Leute, die einen betatschen (wollen).

Vieles betrifft auch Hunde, die nicht aus dem Auslandstierschutz kommen, aber es sollte deutlich geworden sein, dass Tierschutzhunde meist in besonderem Maße gestresst sind.


Stress erkennen ist Bissprävention

Ein so überforderter Hund läuft Gefahr, den meist unverzeihlichen Fehler zu machen und nach „seinen“ Menschen zu schnappen. Manchmal schon am ersten Tag. Meistens nach dem Kind der Familie.

Macht man sich bewusst, wie viel Stress diese Hunde oft hinter sich haben, leuchtet es ein, dass wir es ihnen für eine ganze Weile sehr gemütlich und leicht machen sollten, damit sie von diesem hohen Stressniveau herunterkommen können. Dazu gehört auch, sie vor Kindern zu schützen, die natürlich gerne das befellte neue Familienmitglied nah bei sich hätten. Das schützt auch unsere Kinder.

Kommt es zu näheren Kontakten zwischen Hund und Kind, so müssen diese unbedingt und immer von den Eltern eng begleitet und moderiert werden. Zu oft hieß es schon: „Ich habe nur mal kurz weggesehen; da war es schon passiert.“
Damit die Begleitung hilfreich ist, müssen Eltern in der Lage sein, Stress- und Konfliktzeichen beim Hund sicher zu erkennen. Wird ein Hund so klar und deutlich, dass vollkommen Ungeübte erkennen, dass der Hund sich sehr unbehaglich fühlt, kann es bereits zu spät sein. Wichtig ist zudem, über das passende Handwerkszeug zu verfügen, um Situationen zu entspannen und den Hund zu unterstützen, sodass der Stress nicht noch befeuert wird.


Kind und Hund – und?

Wenn ihr ein oder mehr Kinder habt und ein Hund ist bei euch eingezogen oder soll es demnächst tun, wendet euch bitte an einen gut ausgebildeten Trainer oder Verhaltensberater, der mit euch zusammen bei euch zu Hause überlegt, wie ein sicheres Umfeld geschaffen werden kann und der euch darin schult, Gefahrenquellen zu erkennen und Stresszeichen und Konfliktsignale des Hundes zu erkennen.

  • Lasst euch darüber informieren, was Hunde im Allgemeinen als bedrohlich einstufen.
  • Lasst euch zeigen, wie ihr den Alltag und gerade auch die Anfangszeit für eure Hunde „entstressen“ könnt.
  • Lasst euch etwas über Lernverhalten erklären und darüber, wie ihr mit unerwünschtem Verhalten umgehen könnt – und warum das wichtig ist.
  • Lasst euch zeigen, wie ihr den Hunden beibringen könnt, sich zu entfernen, wenn es doof wird. Und lasst euch aufklären, warum es so wichtig ist, ein Weggehen nicht zu verhindern (z.B. weil man gerade eine Zecke entfernen will oder der Hund mal gebürstet werden muss) oder gar zu bestrafen.
  • Überlegt gemeinsam mit dem Profi, wie ihr sichere gemeinsame Aktivitäten von Kind und Hund ohne Körperkontakt fördern könnt.
  • Lasst euch Ideen an die Hand geben, wie ihr euch den Hund „von den Füßen schaffen“ könnt, wenn es mal turbulent mit euren Kindern (und ggf. ihren Besuchern) zugeht oder ihr selber gestresst seid.

Mitunter reicht es, wenn ihr euch ein einziges Beratungsgespräch gönnt. Selbst, wenn es am  Ende drei Einzelstunden werden, ist dies eine überaus sinnvolle Investition. Es geht immerhin um die Sicherheit eurer Kinder.

Und dabei ist es am Ende unerheblich, ob der Hund aus dem Tierschutz oder vom Züchter kommt.

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